Der Geist meiner Väter steigt im Regen auf von Patricio Pron/Rezension

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„Wer war mein Vater gewesen? Was hatte er gewollt? Was war dieser Bodensatz des Schreckens, den ich gern völlig vergessen hätte und der wieder hochgekommen war , als mir die Tabletten ausgingen und ich unter seinen Papieren die Geschichte der Verschwundenen  entdeckte.“

Und  Pron beschließt darüber zu schreiben.

„Eines Tages erhielt ich einen Anruf von der deutschen Universität, an der ich arbeitete. Eine weibliche Stimme….teilte mir mit, ich müsse  die Arbeit wieder aufnehmen oder man sähe sich gezwungen, den Vertrag mit mir zu lösen. Ich bat sie um ein paar Tage Bedenkzeit…und ich dachte, dass mir zwei Tage blieben, mich zu entscheiden, dachte aber auch, dass es des Nachdenkens kaum bedurfte: Ich saß hier und hatte eine Geschichte zu schreiben, und es war eine von denen ein gutes Buch werden kann…“

Während er seinem sterbenden Vater entgegen fliegt versucht er sich zu erinnern. Acht Jahre hat er in Deutschland gelebt, nun fliegt er seiner Heimat Argentinien entgegen. Viel Erinnerbares ist es nicht, scheint ihm: ein Schlüsselklirren, Geruch von Tabak, lange Autofahrten durch die Provinzen Santa Fe, Cordoba, La Rioja bei denen der Vater den Kindern die Schönheiten des Landes zeigte. Er erinnert sich an Kinderkrankheiten, Plattfüße, vegetarische Ernährung  und an das Lesen lernen auf eigene Faust im Alter von 5 Jahren.

Er erinnert sich nicht  an : Das Umrunden von Gegenständen auf dem Gehweg, Überlebenstraining im Wald und Verhaltensregeln bei Entführung.

Er erinnert sich aber:  An den Tod des Großvaters. Es war der Beginn der Zeit ohne Tränen.

„…vermutlich weinte ich seither nicht mehr, weil meine Medikamente das verhindern, vielleicht besteht die einzige echte Wirkung der Medikamente darin, zu verhindern, dass einer sich vollkommen glücklich oder traurig fühlt.“

Der Sohn, der Rückkehrer, fühlt sich wie einGespenst...“ denn ein Gespenst zu sein, ist nichts anderes als man selbst zu sein als ein anderer.“

Er weiß nicht wer er ist, aber:

Er erkennt sich in Einem, der im Geschäft einen Pullover anprobiert, erkennt sich in Jemanden der in einer Küche ganz allein ein Abendessen kocht, erkennt sich in den letzten Besuchern einer Bibliothek. “ Und erinnere mich daran, dass ich so einer war und das ich manchmal, wenn ich las oder schrieb oder kochte, in meinem Kopf eine Stimme gehört hatte, die zu mir sagte alles werde gut werden und ich würde die Bücher, die ich immer hatte  schreiben oder Ihnen zumindest so nahe kommen, wie es mir möglich war…“

Vorerst aber sitzt er, nachdem ihn das Flugzeug in Argentinien ausgespuckt hat  und er seinen in Kabeln versponnenen sprachlosen Vater im Krankenhaus besucht, im Haus seiner Kindheit, im Büro seines Vaters. Dort entdeckt er eine Akte mit Recherchen über den Fall Alfredo Burdisso, der einem kleinkriminellen Komplott zum Opfer fiel. Der Fall offenbart eine andere Ebene.

Alicia Raquel Burdisso, Journalistin, Studentin der Literaturwissenschaft(25 Jahre ). Von Sicherheitskräften am. 21.6.1977 in der Stadt Tucuman verhaftet und seither verschwunden.

„Der Vater war es, der Alicia Burdisso für die Mitarbeit in jener peronistischen Organisation gewann, in der er eine leitende Rolle spielte; und der sich deshalb noch dreißig Jahre danach für ihr Verschwinden und ihren Tod verantwortlich fühlt.“ Alexander Wittwer/Rezension lesarten

 

Pron begreift das die Aufgabe seiner Generation vielleicht darin besteht die Geschichte der Eltern aufzuklären, um die eigene Vergangenheit verstehen zu können. Er erlebt die Eigenwilligkeit traumatisch erlebter Eindrücke, die sorgfältig in den Windungen der Seele versteckt, sich beim Aufsteigen weder einer linearen Abfolge bedienen,  noch steuerbar sind. Das Leben in der Gegenwart ist kontaminiert. Immer wieder gelingt es dem Autor, den Leser auf seine Reise nach innen mitzunehmen.

„Manchmal erinnere ich mich an uns, meinem Vater und mich, beim Spaziergang durch einen Wald niedriger Bäume, und denke, dass dieser Wald der Wald der Angst ist und dass wir den Weg fortsetzen und er  mich weiter geleitet und dass wir vielleicht eines Tages aus diesen Wald herauskommen.“

Leseeindruck:

Das Buch hat mich gepackt. Trotz der fragmentarischen Aneinanderreihung von Erinnerungen ging die Spannung nicht verloren.  Der Fall des Alfredo Burdisso ist der Aufhänger der Geschichte, der schließlich in die Zeit der Militärdiktatur  in Argentinien führt in der ca 30 000 Menschen verschwanden. Das Grauen, die Gewalt, der Terror hatten Pron als Kind gestreift.Er begreift erst spät,  dass seine Eltern ihn das Überleben lehrten, als sie ihm beibrachten seinen Namen dreimal laut zu rufen, falls er in ein Auto gezerrt würde und einen Zettel mit seiner Anschrift auf den Boden fallen zu lassen.

Ein beklemmender Roman, der viele Fragen aufwirft.